Das Smartphone und der am Internet angeschlossene PC zu Hause verlocken dazu, sich ein Fehlverhalten anzugewöhnen, das zur Sucht, der Mediensucht, werden kann. Julia Dier, Koordinatorin der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltens- und Mediensucht an der Universitätsambulanz der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, sprach mit der „DA “ über den gesunden Umgang mit Medien und die Warnsignale einer Mediensucht.

Artikel drucken

Psychoaktive Substanzen wie Alkohol, Nikotin und Drogen können abhängig machen, das ist hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist, dass auch Verhaltensweisen süchtig machen können (substanzungebundene Abhängigkeiten). Eine davon ist die Mediensucht. Dazu gehören auch die exzessive Nutzung von sozialen Netzwerken, Internetpornografie, Online-Glücksspiel und die Fernseh- und Seriensucht.

Mag. Julia Dier, Psychotherapeutin und Koordinatorin der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltens- und Mediensucht an der Universitätsambulanz der Sigmund
Freud PrivatUniversität Wien, zeigt im Interview auf, was Warnsignale einer Mediensucht sind, und gibt Ideen für einen achtsameren Umfang mit Medien

Dier - © Mag. Julia Dier
© Mag. Julia Dier

Mag. Julia Dier, Koordinatorin der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltens- und Mediensucht an der Universitätsambulanz der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien

Abgrenzung

Kriterien für Mediensucht

Medien2

  • Kontrollverlust bezüglich Beginn, Ausmaß und Intensität
  • Abstinenzverlust – Versuche, das Computerspielen bzw. die Mediennutzung einzuschränken/aufzugeben, scheitern wiederholt.
  • Unwiderstehlicher Drang/Verlangen, die Medien zu nutzen
  • Entzugserscheinungen wie Unruhe, Gereiztheit, Konzentrationsschwäche
  • Vernachlässigung von Verpflichtungen (schulisch, beruflich/familiär)
  • Starke gedankliche Beschäftigung mit dem Verhalten, auch während anderer Aktivitäten
  • Leidensdruck: Das Verhalten wird zunehmend belastend empfunden.
  • Das Mediennutzungsverhalten wird zunehmend zur Stimmungs- und Gefühlsregulation eingesetzt.

Interview

DA "In der Coronapandemie bemerkten viele Menschen, dass sich ihr Medienkonsum und der ihrer Familienmitglieder verändert haben. Was hat die Pandemie mit dem
Medienverhalten gemacht?"

Mag. Julia Dier "Unser Medienkonsum ist auf jeden Fall in die Höhe gegangen, nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen, sondern auch sehr deutlich bei den Erwachsenen, und zwar auch bei den älteren Erwachsenen. Das ist prinzipiell kein Problem. Aber wichtig ist es, Maß zu halten und nicht nur vor dem Fernseher, PC und Handy zu sitzen, sondern sich auch mit anderen Dingen zu beschäftigen."

DA "Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Mediensüchten und substanzgebundenen Süchten gibt es?"

Dier "Der Unterschied zu den anderen Suchtformen ist gar nicht so groß, zum Teil überschneiden sie sich. Die sofortige Bedürfnisbefriedigung ist bei der Mediensucht
verglichen mit anderen Süchten aber noch einmal viel größer, weil wir ja gerade das Handy immer sofort zur Hand haben und damit fast alles machen können – ob
einkaufen oder in die Fantasiewelt eines Spiels flüchten. Die ständige Verfügbarkeit ist eine große Gefahr."

DA "Woran kann man bei sich oder anderen feststellen, dass die Nutzung zu intensiv sein könnte?"

Dier "Warnsignale sind vor allem sozialer Rückzug oder dass die schulische Leistung beziehungsweise die Arbeitsleistung stark zurückgeht und die Person vielleicht oft
krank ist. Und dann gibt es noch die klassischen Kriterien von Suchterkrankungen – wie den Kontrollverlust, die Dosiserhöhung und teilweise auch Entzugssymptome. Sie
sehen bei der Mediensucht etwas anders aus als bei substanzgebundenen Süchten und bestehen häufig in Gereiztheit und Aggression; v. a. bei Kindern."

DA "Können sich hinter einer Mediensucht andere Erkrankungen verbergen?"

Dier "Die Mediensucht selbst ist eher das Symptom, das wir von außen sehen. Dahinter steckt meistens ein anderes Problem. Bei den Kindern fällt uns oft auf, dass sie das Gefühl haben, nicht dazuzugehören, irgendwie anders zu sein, oder sich von den Eltern vernachlässigt fühlen. Es muss nicht immer real so sein, dass sie vernachlässigt oder gegenüber den Geschwistern benachteiligt werden. Hier geht es um das subjektive Empfinden."

DA "Wie sieht es mit den Langzeitfolgen bei Mediensucht aus?"

Dier "Für Österreich haben wir dazu leider keine Daten. Ich kann nur ein paar Beispiele aus meiner Praxis mit Erwachsenen geben: Die Betroffenen verlieren so gut wie
immer ihren Arbeitsplatz, oft zerbrechen die Beziehung und/oder Freundschaften. Bei Computerspielsüchtigen kommt es vor, dass sie beinahe jede freie Minute vor dem
Bildschirm verbringen, daraus resultiert natürlich viel zu wenig Bewegung und für die Augen ist so ein Verhalten auch schädigend."

DA "Welche Therapiemöglichkeiten gibt es und was ist das Therapieziel?"

Dier "Wir bieten Einzeltherapie an und haben zwei begleitete Selbsthilfegruppen. Unter den Teilnehmer:innen der Selbsthilfegruppen befinden sich auch Personen, die mit
ihrem Medienverhalten nicht zufrieden sind, bei denen man aber noch nicht von einer Sucht sprechen kann.

Das Therapieziel kommt sehr auf die Person an. Bei den Erwachsenen reduzieren wir den Konsum von der Zeit her nicht, denn wenn man versucht, das eigentliche Problem hinter der Sucht zu beheben, dann wollen die Betroffenen auch wieder mehr erleben, sie wollen wieder in die reale Welt hinaus. Es fehlt ihnen aber oft an Anknüpfungspunkten. Deshalb finde ich es auch so wichtig, dass wir das Selbsthilfegruppenangebot haben. Dort kann man sich treffen und vernetzen. Das schafft Verbündete und die Betroffenen können an einem gemeinsamen Ziel arbeiten."

DA "Wie sieht es mit der medikamentösen Behandlung der Mediensucht aus?"

Dier "Wir versuchen die leichteren Fälle ohne Medikamente zu behandeln. Wenn die Mediensucht sehr stark ausgeprägt ist und wir nicht helfen können, dann werden die Patienten zu einem Facharzt/einer Fachärztin für Psychiatrie geschickt und dort wird dann die Grunderkrankung behandelt, oft eben eine Depression oder Angststörung. Mein Ansatz ist aber, dass wir in Zukunft viel mehr auf die Prävention setzen müssen, und diese Arbeit beginnt schon in den Kindergärten und Schulen."

DA "Welche Empfehlungen für ein „gesundes“ Medienverhalten können Sie geben?"

Dier "Ich finde es realistisch zu sagen, dass man als ältere/r Jugendliche/r und Erwachsene/r zumindest zweieinhalb Stunden täglich mit den Medien außerhalb von Schule und Arbeit verbringt, damit meine ich vor allem die Nutzung des Smartphones, des Computers, der Konsole und des Fernsehers. Am Wochenende werden diese Zeiten häufig überschritten, was kein Problem darstellt, solange man zum Ausgleich auch anderen Tätigkeiten nachgeht, zum Beispiel eine Stunde hinausgeht oder sich bewegt. Die Dosis macht auch hier das Gift.

Eine gute Angewohnheit sind digitale Auszeiten, zum Beispiel indem die Handys aller Familienmitglieder über Nacht im Wohnzimmer bleiben. Ebenso kann man die Regel „Kein Handy beim Essen“ gut als Familienregel durchsetzen. Man kann sich natürlich auch selbst kontrollieren, zum Beispiel mit Apps, die das Nutzungsverhalten am Handy aufzeichnen und einem anzeigen, wann man ein gewisses Zeitlimit am Tag überschritten hat. Dabei helfen zum Beispiel die App YourHour oder die Bildschirmzeit auf dem Handy."

DA "Was sollte man Kindern von klein auf beibringen, um ein gesundes Medienverhalten zu entwickeln?"

Dier "Kindern unter drei Jahren sollte man generell kein Handy in die Hand geben. Wenn man ihnen trotzdem einen Film oder eine Serie zeigen möchte, dann sollte man eher noch den Fernseher aufdrehen, als ein Youtube-Video am Smartphone zu zeigen. Bei Youtube kann man nie ausschließen, dass plötzlich für Kinderaugen problematische Inhalte auftauchen. Wir empfehlen auch immer, den Kindern Regeln aufzustellen. Damit sollte man schon bei den ganz Kleinen beginnen, denn erfahrungsgemäß wird es für die Eltern schwierig, dies erstmals zu tun, wenn die Kinder schon 12 oder 14 Jahre alt sind.

Gut wäre es, wenn die Erwachsenen gemeinsam mit den Kindern die Medien nutzen, zum Beispiel einen Film anschauen oder auch immer wieder einmal ein Konsolenspiel mitspielen, zuschauen und nachfragen. Man muss sich auch für die Familie Regeln überlegen (zum Beispiel die genannte Regel „Am Esstisch nutzen wir kein Handy“). Bei Kindern sollte man immer mit gutem Vorbild vorangehen. Oft melden Eltern Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren bei uns an und beschweren sich, dass die Kinder so viel vor den Medien sitzen. Und die Kinder entgegnen dann, dass die Eltern genau dasselbe machen. Deshalb müssen die Regeln für alle gelten."

DA "Herzlichen Dank für das Gespräch."