Übergewichtigen bzw. adipösen Menschen werden viele Dinge nachgesagt: Sie seien faul, inkonsequent, willensschwach. Warum unsere Gesellschaft so hart mit Mehrgewichtigen ins Gericht geht, was die Schwierigkeiten des Abnehmens sind und welche Rolle die Body-Positivity-Bewegung einnimmt, haben wir Adipositas-Spezialistin Dr. Bianca-Karla Itariu, PhD, gefragt.

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Ab wann ein Körper als dünn oder dick bzw. „normal“ gilt, darüber gibt der sogenannte Body-Mass-Index (BMI) Auskunft. Ab einem BMI von 25 spricht man von Übergewicht, ab 30 von Adipositas. Ein begrenzt aussagekräftiger Parameter, wie Dr. Itariu im Gespräch erklärt. Diskriminierung im Alltag macht Betroffenen das Leben (noch) schwerer.

DA "Warum ist das Gewicht so ein präsentes Thema in unserer Gesellschaft?"

Dr. Bianca-Karla Itariu, PhD "Ich glaube, das ist das einfachste, nach dem man (noch) diskriminieren kann. Wir haben kulturell/religiös/geschichtlich gelernt, das Dicksein zu diskriminieren. In der Religion gelten Völlerei und Faulheit als Sünden. Im Feudalismus galt: Die Noblesse kann sich erlauben, dünn zu sein, die Bauern sind dick. Es wird immer durch diese moralische Lupe interpretiert: Dicksein ist verwerflich. Nach dem Motto: Die haben sich nicht im Griff, die sind faul usw. Da sind viele Vorurteile, die Menschen mit Mehrgewicht zu hören bekommen. Sie selbst erwerben mit der Zeit auch so eine Art internalisiertes Stigma, wo sie sagen, „Stimmt, ich schaffe es einfach nicht“ oder „Ja, ich bin selbst Schuld“ und so weiter. Oft sehen Sie sich selbst als minderwertig und das ist ein Riesenproblem. Ich denke, es ist an der Zeit, Menschen losgelöst von ihrem Gewicht zu sehen.

Nicht jeder Mensch, der ein bisschen dicker ist, hat unbedingt ein ärztliches Problem. Es kann sein, dass diese Personen total happy sind, nichts haben und den Arzt/die Ärztin nicht mehr als jeder andere Mensch brauchen. Es ist natürlich durch diese soziale, kulturelle, normierte Welt auch ein bisschen ein Frauenthema. Die Frau muss eine gewisse Figur haben, beim Mann wiederum ist ein Bauch okay. Dabei sind die Männer viel häufiger krank, wenn sie mehrgewichtig sind."

DA "Adipös sein bedeutet also nicht automatisch krank sein?"

Itariu "Das Problem beginnt schon mit der Diagnosestellung der WHO-Kriterien und dem BMI 30. Krankheit ist in Wahrheit auch ein menschliches Konstrukt.
Es gibt Bestrebungen der Fachgesellschaften, eine Definition von klinischer Adipositas zu erarbeiten. Ja, das Gewicht kann zum Problem werden, das ist jetzt nicht zu verharmlosen, aber nur zu sagen „BMI 30 = Krankheit“ ist zu simpel.

In Amerika sagt man „adiposity based chronic disease“, die ABCD. Das heißt, Adipositas ist dann eine Erkrankung, wenn durch die höhere Fettmasse gesundheitliche Schäden entstehen: Stoffwechselschäden, funktionelle Einschränkungen, psychische Einschränkungen … Und da ist nicht jeder mit einem BMI über 30 betroffen. Man sollte die BMI-Kriterien diskutieren bzw. sich jeden Einzelnen ansehen.

Untergewicht ist natürlich genauso ein Thema, bei dem man gesundheitliche Probleme entwickelt, aber da ist der Unterschied: Wenn jemand zum Beispiel 10 Kilo
in 3 Monaten abnimmt, dann wird eine ganze Reihe an Untersuchungen gemacht, um zu schauen, was stimmt da nicht? Wenn jemand 10 Kilo in 3 Monaten zunimmt, heißt es gleich: Du hast dich nicht im Griff."

DA "Bald werden rund 20 Prozent aller erwachsenen Menschen fettleibig sein, schätzt die WHO. Sind für Sie als Expertin solche Prognosen besorgniserregend?"

Itariu "Nein, weil wir da Lösungen finden. Früher gab es kaum Behandlungsmöglichkeiten, weil die Medikamente noch schwere Nebenwirkungen hatten, heute haben wir Medikamente, die wirksam und relativ sicher sind. Da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Die prognostizierten Zahlen würde ich mit Vorsicht sehen. Ich würde eher fragen, wie können wir Möglichkeiten schaffen, die Rahmenbedingungen zu verbessern?"

DA "Was sind für Sie die Ursachen, wo man ansetzen sollte?"

Itariu "Die Themen Ernährung und Bewegung sind natürlich wichtig. Nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Gesellschaft. In den Schulen haben die Kinder oft nur 2 Turnstunden in der Woche, auch im Erwachsenenalter üben wir vorwiegend sitzende Berufe aus. Wir haben die Mittagspause, wo wir hastig essen, aber es gibt keine Bewegungspause. Das sind so systemische Ursachen. Es gibt schon gute Ansätze, dieser Nutri-Score auf Lebensmitteln etwa, er ist nicht ideal, aber ein erster Schritt. Andererseits ist Adipositas nicht immer unbedingt ein Ergebnis von ungesunder Ernährung. Viele von meinen Patient:innen ernähren sich sehr gesund, aber es ist einfach die Menge.

Vor Kurzem wurde ein Paper im Magazin „Nature“ veröffentlicht, in dem es darum ging, dass man mit gesunder Ernährung durchschnittlich fast 10 Jahre länger lebt, etwa mit einer mediterranen Ernährung. Also man muss jetzt nicht bei BMI über 30 direkt denken: „Oh mein Gott, Feuer am Dach“, sondern sich eher fragen: Wie können wir nachhaltig gesünder werden? Natürlich, wenn es notwendig ist, muss man auch einen niederschwelligen Zugang zu Therapien ermöglichen. Etwa bei einer starken Fettleibigkeit, der sogenannten „Super Obesity“, bei der sich Menschen nicht mehr selbst pflegen können und nicht mehr ihre Arbeit ausüben können etc. Da muss man rasch den Zugang zu Therapien ermöglichen, ohne irgendwelche Moralpredigten.

Es sollte gesellschaftlich was weitergehen, wir sind alle gefragt. Ich glaube, ein sehr wichtiger Punkt ist, dass man Diskriminierung verhindert. Ein Grund, warum Menschen mit Adipositas manchmal einen schlechten Gesundheitszustand haben, ist, dass sie fast Angst haben, zum Arzt/zur Ärztin zu gehen, weil sie teilweise sehr übergriffig behandelt werden.

DA "Dicke Menschen werden im gesundheitlichen Setting stigmatisiert? Wieso?"

Itariu "Ich glaube, weil man im Studium wenig darüber lernt. Man hat keine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Da heißt es schnell „der/die Patient:in ist „incompliant“ (Anm. Compliance = Bereitschaft, aktiv an Behandlung mitzuwirken) und ich finde, das kann man wirklich nicht über jemand sagen, das ist eine Abstempelung. Als Beispiel: Eine adipöse Patientin geht zum/zur Gynäkolog:in für eine normale gynäko- logische Untersuchung und bekommt ungefragt eine
Diätberatung. Ich habe oft Patient:innen, die zu mir kommen und das Gespräch entwickelt sich zu einer Art Trauma-Verarbeitung, weil sie mir erzählen, was sie alles schon erlebt haben bzw. sich anhören mussten. Es gibt in den kanadischen Leitlinien einen sehr interessanten Ansatz, das sogenannte 5-A-Modell. Dabei geht es darum, wie man Menschen mit Adipositas behandeln sollte:

  • Das erste A steht für „ask“, also fragen. Fragen, ob das überhaupt okay ist, das Thema anzusprechen, bzw. fragen, ob das Gewicht ein Problem ist.
  • Das zweite A steht für „assess“, also evaluieren, was sind die Risikofaktoren, was kann man verbessern?
  • „advise“ steht für beraten: Was hilft, was sind die Therapiemöglichkeiten?
  • Das vierte A steht für „agree“. Man einigt sich gemeinsam auf Ziele, die in einer gewissen Zeit umgesetzt werden sollen.
  • Dann kommt „assist“. Das bedeutet, dem Patienten/ der Patientin beratend zur Seite zu stehen.

Ich glaube, schon das erste A für „ask“/fragen – da ist schon viel Verbesserungspotenzial."

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DA "Grundsätzlich könnte man meinen: Man isst halt ein bisschen weniger, macht etwas mehr Sport, kann ja alles nicht so schwer sein. Wo aber liegt genau die Schwierigkeit beim Abnehmen?"

Itariu "Stimmt, so sagt man. Zur Kalorienreduktion: Es ist intrinsisch angelegt, wie schnell und wie lange wir satt sind, das können wir nicht so leicht selbst bestimmen. Hunger ist ein enorm starker Driver, mehr oder weniger wie ein Trieb. Das findet nicht in unseren bewussten Hirnbereich im frontalen Cortex statt, sondern die Zentren liegen im Hypothalamus. Ich sage nicht, dass man sich nicht unter Kontrolle hat, aber man muss sich auch als schlanke Person mal vorstellen: Wenn mir jemand sagt, ich muss jetzt doppelt so viel essen, dann wird es mir vermutlich sehr schwer fallen, denn wenn ich satt bin, bin ich satt. Genauso umgekehrt, wenn jemand nicht satt ist, ist er nicht satt. Strenge Diäten und Nulldiäten können sehr stressig für den Körper sein. Natürlich, wenn es gelingt, mit einer gesunden Ernährung auf Dauer etwas an Gewicht
reduzieren, ist das sehr begrüßenswert. Bei starker Adipositas wird das nicht so leicht gelingen. Eine Do-it- yourself-Lösung funktioniert da nicht."

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© Dr. Bianca-Karla Itariu, PhD

DA "Es heißt, dass das Gehirn sozusagen programmiert ist auf das höchste Gewicht, das man mal hatte, und der Körper dann immer wieder zu diesem Gewicht neigt. Stimmt das?"

Itariu "Das wird in der Forschung sehr viel diskutiert. Die Theorie stimmt nicht ganz, glaube ich. Es gibt diese Set-Point-Hypothese, dass das Hirn zurück will zu dem Gewicht. Ich glaube, wir haben je nach Energiebedarf verschiedene physiologische Situationen und das Fettgewebe kann expandieren und auch wieder schrumpfen. Aber meines Erachtens ist man schon ein bisschen vor- programmiert. Einer ist etwas dicker und einer etwas dünner, einem schmeckt das Essen mehr und einem weniger. Da spielen sicherlich auch In-Utero-Faktoren bzw. epigenetische Faktoren eine Rolle.

Man sollte aber auch sehen, wofür das Fettgewebe alles gut ist und dass es eine sehr protektive Wirkung hat und uns resistenter macht. Wie viel Fett jemand speichern
kann, ist individuell sehr verschieden. Ich glaube also, dass dieser Set-Point-Hypothese nicht sehr viel abzugewinnen ist, weil eben doch jeder Mensch anders ist."

DA "Was halten Sie von der aktuell medial präsenten Body-Positivity-Bewegung? Da gibt es mittlerweile einige prominente Vertreterinnen, Model Ashley Graham, die Sängerin Lizzo … Kritische Stimmen meinen, dass die Bewegung Adipositas glorifiziert?"

Itariu "„Body Positivity“ kann man als eine Art Widerstandsbewegung sehen. Es ist auch mal gut, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken und zu sagen „Wir sind anders“. Es ist ein guter Ausgangspunkt, um Diskussionen über das Thema zu ermöglichen und sich damit auseinanderzusetzen.

In Artikel 1 der Charta der Grundrechte steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich glaube, hier ist so viel in den letzten Jahren gesellschaftlich passiert. Mittlerweile weiß man: Aufgrund von Hautfarbe, Religion etc. zu diskriminieren geht nicht. Übergewichtige sind quasi die letzte Bastion, die man noch beleidigen und diskriminieren „darf“.

Die Body-Positivity-Bewegung sagt, wir nehmen uns den Raum und wollen einfach akzeptiert werden. Mir haben letztens diese Aktivist:innen erklärt, dass sie niemanden bekehren wollen, dick zu werden. Es ist ihnen nur wichtig, dass niemand Diskriminierung erlebt. Jeder sollte so sein können, wie er/sie ist und selbst für sich entscheiden können, ohne diesen Druck „Du musst abnehmen“. Ich finde es gut, auch andere Körperbilder zu sehen und sich der Vielfältigkeit bewusst zu sein und nicht aufgrund des Erscheinungsbilds zu urteilen.

Was die Modeindustrie an Standards setzt, gepaart mit den ganzen Filtern in den sozialen Medien – das ist 1.000-fach schädlicher als die Body-Positivity-Bewegung."

DA "Ihr Fazit zum Schluss?"

Itariu "Ich glaube, wir müssen Leute mal so sein lassen, wie sie sind. Es ist nicht so einfach, mit einem sehr hohen Gewicht gewisse Sachen zu machen, von Schuhe zubinden bis hin zu laufen gehen. Es gibt auch sehr wenige Sporteinrichtungen, die auf Übergewichtige spezialisiert sind, im Fitnesscenter wird man oft schief angeschaut. Viele meiner Patient:innen trauen sich nicht insSchwimmbad. Der erste Schritt, was wir gesellschaftlich tun sollten, ist zu sagen: „Come as you are“. Erst dann kann man gedeihen in einer Gesellschaft.

„Jeder Körper hat eine Chance verdient“, sagt meine sechsjährige Tochter. Ich denke, um das geht es doch eigentlich! Sonst sperren wir einfach sehr viele Türen zu und das macht die Leute krank."

DA "Danke für das Gespräch."