Rund 200.000 Österreicher:innen erkranken zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung. Der Übergang von einer harmlosen Diät zur psychischen Erkrankung ist fließend. Der Wunsch, ein paar Kilos abzunehmen, ist meist nur Auslöser. Die Ursachen, warum Betroffene eine Essstörung entwickeln, sind vielseitig und tiefgründig.
„Ich wollte so schlank wie meine beste Freundin sein“, „Ich habe plötzlich viele Komplimente bekommen“ oder „Ich wollte nur ein bisschen abnehmen und bin dann reingerutscht“ – Sätze wie diese sind es, die ich von Klientinnen/Klienten in meiner Praxis häufig zu hören bekomme, wenn ich die Frage stelle, wie das mit der Essstörung begonnen hat. In der Regel war am Anfang der Gedanke da, sich wohler zu fühlen – fitter, selbstbewusster. Das klappt auch. Jedoch nur, wenn rechtzeitig erkannt wird, wann die Grenze erreicht und das Hungern nicht ein Hilfeschrei der Seele ist.
Essstörungen treten vor allem bei Mädchen und jungen Frauen auf. In Österreich liegt der Frauenanteil bei 90–97 %. Das Durchschnittsalter beim erstmaligen Auftreten liegt bei Mädchen zwischen 16 und 19 Jahren. Laut einer Studie von kanadischen Forschern und Forscherinnen, die die Auswirkung der Pandemie auf die psychische Gesundheit untersucht haben, hat sich die Häufigkeit von schweren Essstörungen in der Coronazeit um 48 % erhöht. Zu den häufigsten Formen zählen dabei Magersucht und Bulimie.
Während bei der Magersucht die Kalorienzufuhr mit der Zeit immer mehr reduziert wird – oftmals wird nur noch ein Apfel am Tag gegessen –, kommt es bei der Bulimie zu Essanfällen und anschließendem Erbrechen, um die Kalorienzufuhr zu kompensieren und damit ein Zunehmen zu verhindern. Charakteristisch für die Magersucht ist ein sehr niedriges Körpergewicht mit einem BMI (Body-Mass-Index) von unter 18,5. Im Unterschied dazu können Bulimiker:innen sowohl unter- als auch normalgewichtig und in seltenen Fällen sogar übergewichtig sein.
Ausdruck psychischer Konflikte
Das Streben nach dem perfekten Körper, um den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen, stellt einen Risikofaktor dar, kann aber nicht als alleinige Ursache angesehen werden. Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren, das zu Essstörungen führt. Nahezu alle Betroffenen haben ein geringes Selbstwertgefühl, stellen hohe Ansprüche an sich selbst, sind perfektionistisch veranlagt, können nur schwer mit Kritik umgehen und sind besonders harmoniebedürftig.
Familiäre Einflussfaktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Häufig müssen Betroffene schon im Kindesalter Verantwortung übernehmen. Auch traumatische Erlebnisse, familiäre Disharmonie und der Erziehungsstil können Ursachen sein.
Essgestörte Personen weisen oftmals einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil auf. Das heißt, sie richten ihre Aufmerksamkeit nicht auf die eigenen Emotionen, sondern auf die des Gegenübers. Sie wollen erfühlen, was sich der andere wünscht, und dies auch erfüllen. Dadurch verlieren sie aber den Zugang zu den eigenen Gefühlen.
Gründe für den Anstieg in der Pandemie
Homeschooling und das „Abstandhalten“ von sozialen Kontakten führten dazu, dass Jugendliche mehr Zeit in Social Media investierten. Das Internet wurde noch wichtiger, und Fitness-Influencer:innen befeuerten das Streben nach dem perfekten Aussehen. Außerdem hatten die Jugendlichen mehr Zeit für Sport; zwanghafte Verhaltensweisen konnten so gefördert werden.
Durch das Fehlen von sozialen Kontakten, dem persönlichen Austausch, waren viele Jugendliche mit ihren Themen und Gedanken alleine, und auch die Eltern waren durch Homeschooling und Homeoffice oftmals überfordert. Auch wichtige Bezugspersonen von außen, wie Lehrer:innen, fielen weg, wodurch Verhaltensveränderungen im Schulsetting erst sehr spät oder gar nicht erkannt wurden.
Erkenntnis ist der erste Schritt zur Heilung
„Ich habe eine Essstörung.“ Betroffene, die sich diesen Satz eingestehen, haben den ersten und damit wichtigsten Schritt zum Heilungsprozess gemacht. Dabei spielen enge Bezugspersonen eine wichtige Rolle, denn in den meisten Fällen dauert es sehr lange – manchmal zu lange – bis sie sich helfen lassen wollen. Ein zu langes Warten kann bei einer stark ausgeprägten Anorexie jedoch tödlich enden.
Hegen Angehörige den Verdacht, sollten sie Interesse zeigen und das persönliche Gespräch suchen. Dabei ist es wichtig, über die eigene Wahrnehmung und über die eigenen Gefühle zu sprechen. Sätze wie „Iss doch einfach“ sind kontraproduktiv. Stattdessen können Aussagen wie „Ich habe den Eindruck, dass es dir nicht gut geht“ oder „Ich mache mir Sorgen um dich“ hilfreich sein, damit Betroffene von ihren eigenen Gefühlen erzählen und sich nicht in die Enge getrieben fühlen.
Ist dieser erste Schritt getan, sollten Betroffene professionelle Hilfe bei auf Essstörungen spezialisierten klinischen Psychologinnen/Psychologen, Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Ärztinnen oder Ärzten suchen.
Gestörtes Essverhalten - Warnsignale
- ständiges Abwiegen
- Die Betroffenen finden sich ständig zu dick.
- Gewicht und Figur sind Thema Nummer eins.
- soziale Isolation
- Horten von Nahrungsmitteln
- Ausreden, dass schon gegessen wurde
- Körper wird in überweiter Kleidung versteckt
- übermäßiges Treiben von Sport
- hohe Leistungsorientierung, Perfektionismus
- körperliche Veränderungen wie Zahnschäden, Haarausfall, Ausbleiben der Menstruation