Ständige Erreichbarkeit, hohe Erwartungen, aber auch die vielen Entwicklungen und globalen Krisen zehren an uns. Wir leben in einer Welt, die uns mental ganz schön fordert. Unsere mentale Gesundheit beeinflusst, wie wir unser Leben erleben und genießen können. Autorin, Unternehmerin und Rednerin Dominique de Marné litt selbst viele Jahre unter ihren psychischen Erkrankungen. Im Interview erklärt sie, wie Selbstfürsorge funktioniert, warum Achtsamkeit guttut und wie wir lernen, „Nein“ zu sagen.
Unsere mentale Gesundheit wird von so vielen Dingen beeinflusst: unserem Schlaf, unserer Ernährung, den Menschen um uns herum, unserer Arbeit, unseren Beziehungen – und auch davon, wie wir mit uns selbst sprechen. Manches davon bemerken wir sofort, wie Stress oder körperliche Erschöpfung, anderes läuft eher unbemerkt im Hintergrund ab. Das Schöne daran ist: Wir haben selbst eine Menge in der Hand. Wir können sie stärken, indem wir gut auf uns achten. Wenn wir uns aktiv um sie kümmern, trägt sie uns nicht nur durch stressige Zeiten, sondern macht Platz für das, was im Leben wirklich zählt.
DA: Ernährung, Bewegung, Schlaf und Genussmittel – was haben die mit unserer mentalen Verfassung zu tun?
Dominique de Marné: Kurz gesagt: Sie sind die Basis für einen klaren Kopf und ein gutes Gefühl.
Ernährung: Hier geht es nicht um Verbote, sondern um Ausgewogenheit. Die Zusammensetzung unserer Nahrung entscheidet, welche Materialien unser System zur Verfügung hat, um mit Stress umzugehen. Viel Zucker und Fett sind eher ungünstige Baumaterialien.
Bewegung: Hilft dabei, die durch Stress entstehenden Hormone im Körper abzubauen. Die sind von der Natur eigentlich gut gemeint, da sie uns früher geholfen haben, lebensbedrohlichen Situationen zu entkommen. Heute sind die stressigen Situationen noch da, statt aber vor der brüllenden Führungskraft wegzulaufen oder mit dem überfüllten Maileingang zu kämpfen, tun wir was? Sitzen. Am Schreibtisch. Im Auto. Auf der Couch. So bleiben die Hormone da, richten auf Dauer Schaden an. Deswegen: Abends eine kleine Runde spazieren, zehn Liegestütze machen oder nach dem Mittagessen drei Mal die Treppe rauf und runterlaufen.
Schlaf: Dauerhaft hat Schlafmangel negative Konsequenzen auf quasi jeden Bereich unseres Körpers. Daher: Schlaf einen höheren Stellenwert einräumen, mal bei zehn Minuten früher ins Bett gehen starten und bitte: kein Smartphone im Schlafzimmer.
Genussmittel: Alkohol, Koffein, Nikotin und auch Zucker – bringen kurzfristig „Wohlfühl-Kicks“, belasten aber auf Dauer. Auch hier geht es nicht um Verbote, sondern um bewussten Konsum. Sich fragen: „Warum trinke/rauche/nasche ich gerade? Weil es gerade einfach passt? Oder weil ich damit was anderes bezwecken will: mich zu belohnen/betäuben?“ Wer hier eine gute Balance findet, schafft eine starke Basis für seine mentale Gesundheit.
„Ziele zu haben ist gut – aber wir sollten sie als Bonus sehen, nicht als Bedingung für unser Wohlbefinden.
Dominique de Marné – Autorin & Vorstandsmitglied Mental health europe
DA: Können Sie unseren Leser:innen die Akkumetapher erklären?
de Marné: Genau wie unsere Smartphones haben auch wir Menschen einen Akku und damit eine begrenzte Menge an Energie zur Verfügung. Auch wir haben in unserem Leben verschiedene Apps – manche laden uns regelrecht auf, manche kosten uns (viel) Energie. Das Blöde ist nun, dass die Dinge, die uns Energie kosten, irgendwie automatisch Teil des Lebens sind – Steuererklärung, Haushalt, Pendeln. Aber die Dinge, die uns guttun, die müssen wir planen, priorisieren, uns Zeit dafür nehmen. Rennen wir mit höchsten Ansprüchen an uns selbst durch unser Leben, machen ständig mehrere Dinge parallel und achten nicht auf ausreichend Schlaf oder ausgewogene Ernährung, dann hält die Energie weniger lang.
Deshalb: mal öfter den eigenen Akku checken, zum Beispiel morgens und abends beim Zähneputzen. Und auch das Umfeld ab und an fragen, denn so bekommen wir ohne großen Aufwand ein Gefühl dafür, wie es uns selbst und den Menschen um uns herum eigentlich geht.
DA: Man fragt doch Menschen tagtäglich, wie es ihnen geht. „Reicht“ das?
de Marné „Wie geht’s?“ ist oft nur eine nette Geste, aber selten ernst gemeint. Viele von uns antworten reflexartig „Gut“ oder „Muss ja“, auch wenn das nicht stimmt. Das liegt daran, dass wir die Frage eher als Floskel benutzen, statt sie ernst zu meinen.
Wenn wir wirklich wissen wollen, wie es jemandem geht, können wir das anders fragen: „Wie geht es dir wirklich?“ oder „Was beschäftigt dich gerade?“ Das signalisiert, dass wir echtes Interesse haben. Und wenn die Antwort kommt, ist Zuhören das Wichtigste. Nicht bewerten, nicht sofort mit Ratschlägen um die Ecke kommen – einfach da sein. Auch wir selbst sollten uns öfter fragen: „Wie geht’s mir eigentlich wirklich?“ – und die Antwort auch ernst nehmen.
„Achtsamkeit bedeutet, wirklich im Hier und Jetzt zu sein – also mit dem Kopf da, wo die Füße gerade stehen.
DA: Achtsamkeit ist ein Modewort geworden, bei dem viele mittlerweile genervt/skeptisch reagieren: Was verbirgt sich dahinter?
de Marné: Achtsamkeit bedeutet, wirklich im Hier und Jetzt zu sein – also mit dem Kopf da, wo die Füße gerade stehen. Studien haben gezeigt, dass die meisten Menschen nur knapp die Hälfte der Zeit wirklich präsent sind. Der Rest geht für Gedanken an die Vergangenheit oder die Zukunft drauf.
Ich verstehe jede:n, der am Anfang Probleme mit Achtsamkeit hat – ging mir genauso. Denn wenn wir wirklich mal innehalten und Ruhe zulassen, merken wir vielleicht, dass da auch unangenehme Dinge in uns drin sind, die wir nicht sehen, denken oder fühlen wollen. Mein Tipp: mit kleinen achtsamen Momenten starten. Heute Abend beim Zähneputzen mal nicht über die Einkaufsliste oder das morgige Meeting nachdenken, sondern wirklich wahrnehmen: „Wie bewegt sich die Hand? Wie schmeckt die Zahnpasta? Wie fühlt sich der Schaum im Mund an?“
DA: Wie reagiere ich auf Umstände, die mich stören, aber nicht änderbar sind?
de Marné: Manchmal hilft nur Akzeptanz – und das heißt nicht „gut finden“, sondern „annehmen, dass es gerade so ist“. Statt sich immer weiter zu fragen „Warum nur?“ – denn das kostet einfach weiter Energie: erkennen, dass es gerade nicht ideal ist, dass uns das bewusst ist und wir gerade aber vielleicht noch keine Möglichkeit haben, es zu ändern. Aber alleine das Wissen, dass hier was nicht gut ist und nicht einfach hinnehmen, ist ein entscheidender Unterschied.
Manchmal kann es auch helfen, sich zu fragen „Wie könnte ich es noch schlimmer machen?“ Denn dann merkt man oft, dass man eigentlich doch einen Einfluss auf die Situation hat. Vielleicht ist da ja doch das eine Prozent, wo wir etwas verändern können. Auch Perspektivwechsel sind manchmal gut.
DA: Warum ist es wichtig, auch mal „Nein“ zu sagen, und was ist das Problem am „People Pleasing“?
de Marné: Man sagt „Ja“, obwohl man eigentlich „Nein“ sagen möchte. Warum? Weil wir niemanden enttäuschen wollen, weil wir gemocht werden möchten oder weil wir glauben, es wird von uns erwartet. Das nennt man „People Pleasing“ und es klingt erst mal nett, hat aber einen Haken – es kostet uns Energie und Zeit.
Wenn wir ständig nur anderen gefallen wollen, bleiben unsere eigenen Bedürfnisse auf der Strecke. „Nein“ zu sagen, ist daher nicht egoistisch, sondern wichtig. Es bedeutet, auf sich selbst zu achten, die eigenen Grenzen zu schützen und Platz für das zu schaffen, was uns wirklich wichtig ist. Denn jedes „Ja“ zu etwas, das uns nicht guttut, ist ein „Nein“ zu uns selbst. Am Anfang etwas unangenehm, aber mit der Zeit wird es leichter.
DA: Jeder Mensch nimmt verschiedene Rollen ein. Was macht das mit unserer mentalen Gesundheit?
de Marné: Im Alltag schlüpfen wir ständig in unterschiedliche Rollen: Wir sind Partner:in, Elternteil, Kolleg:in, Freund:in, manchmal auch Zuhörer:in, Organisator:in oder Problemlöser:in. Jede Rolle bringt Erwartungen mit sich – von anderen, aber auch von uns selbst. Das kann schnell zu viel werden, vor allem wenn wir das Gefühl haben, allem gleichzeitig gerecht werden zu müssen.
Unsere mentale Gesundheit leidet, wenn wir in diesem „Rollen-Chaos“ den Überblick verlieren. Dann hilft es, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: „Welche Rollen nehme ich heute eigentlich alle mit?“ Gerade vor sozialen Situationen kann es sinnvoll sein, bewusst zwei oder maximal drei Rollen auszuwählen, auf die wir uns konzentrieren. Das reduziert den Druck und bringt uns mehr Klarheit: „Was ist heute wichtig?“.
DA: Oft glauben wir, dass dieses oder jenes Produkt/Jobtitel oder zehn Kilo weniger uns endlich glücklich machen werden – ein Irrglaube?
de Marné: Das Problem daran: Sobald wir dieses Ziel erreicht haben, schiebt unser Kopf die Glücksmarke meist einfach weiter: „Na ja, jetzt müsste ich aber noch …“ Wirkliches Glück kommt nicht von äußeren Veränderungen, sondern von innen. Es entsteht, wenn wir uns selbst annehmen, wie wir sind, und Dinge in unserem Leben haben, die wirklich wichtig sind: gute Beziehungen, Sinn im Leben und Momente, die uns erfüllen. Ziele zu haben ist gut – aber wir sollten sie als Bonus sehen, nicht als Bedingung für unser Wohlbefinden.
Gestresst? So geht der „5-Jahre-5-Minuten-Trick“
Der Trick ist einfach, aber sehr hilfreich: Wenn Sie etwas ärgert oder stresst, fragen Sie sich: „Wird das in fünf Jahren noch wichtig sein?“ Wenn nicht, dann „dürfen“ Sie sich fünf Minuten so richtig aufregen, ärgern, schimpfen oder was auch immer. Aber dann ist auch wieder gut.
Das hilft, den Fokus auf das zu lenken, was wirklich zählt. Das klappt nicht immer sofort – manchmal hängen wir uns an Kleinigkeiten auf. Aber je öfter Sie sich diese Frage stellen, desto besser werden Sie darin, Prioritäten zu setzen und Alltagssorgen loszulassen. Manchmal genügt schon dieser Perspektivwechsel, um zu sagen: „Okay, ist eigentlich nicht so wild.“
DA: Was kann man sich unter Selbstfürsorge vorstellen?
de Marné: Selbstfürsorge bedeutet, sich bewusst darum zu kümmern, dass es uns gut geht – körperlich, mental und emotional. Das klingt einfach, wird aber im Alltag oft übersehen.
Hier hilft es, sich regelmäßig zu fragen: „Was brauche ich gerade? Was tut mir gut?“ Selbstfürsorge ist nicht immer das große „Wellness-Wochenende“ – oft sind es die kleinen Dinge: ein Spaziergang, ein gutes Buch, eine Pause mit der Lieblingsmusik oder einfach mal „Nein“ zu sagen. Es geht darum, sich Raum zu schaffen, die eigenen Akkus wieder aufzuladen und sich selbst genauso wichtig zu nehmen wie alle anderen.
DA: Was bedeutet Krisenkraft?
de Marné: Krisenkraft bedeutet, in schwierigen Zeiten nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren – auch wenn’s wackelt. Es heißt nicht, dass wir alles stoisch ertragen oder sofort eine Lösung finden müssen. Krisenkraft zeigt sich darin, dass wir durchhalten, neue Wege finden und uns Stück für Stück wieder stabilisieren.
Wichtig ist dabei, die eigene Reaktion zu beobachten: „Was hilft mir jetzt wirklich?“ Manchmal bedeutet Krisenkraft, Unterstützung anzunehmen, manchmal einfach einen Tag nach dem anderen zu nehmen. Sie wächst mit jeder Krise, die wir überwinden. Und oft merken wir hinterher: „Wow, ich hab das geschafft.“ Das Vertrauen in die eigene Stärke nimmt zu – und genau das trägt uns durch zukünftige Herausforderungen.
DA: Was ist Ikigai?
de Marné: Ikigai ist ein Konzept aus Japan und bedeutet so etwas wie „der Grund, morgens aufzustehen“. Es beschreibt die Schnittstelle aus vier Fragen:
– Was liebe ich?
– Was kann ich gut?
– Was braucht die Welt?
– Wofür werde ich bezahlt?
Das persönliche Ikigai hat man gefunden, wenn man eine Tätigkeit findet, die alle vier Bereiche in einem abdeckt. Ich darf mich glücklich schätzen, dass ich mit meiner Arbeit als Mental Health Visionary genau das schaffe. Das ist dann sozusagen die höchste Stufe. Denn es kann auch sein, dass man die einzelnen Bereiche aufteilt, zum Beispiel deckt ein Ehrenamt die ersten drei Bereiche ab (man tut es gern, ist gut darin und die Welt braucht es), aber eben nicht dafür bezahlt wird. Dann geht man einem Beruf nach, der vielleicht nicht erfüllend ist, aber die Rechnungen bezahlt. Solange die anderen Bereiche durch das Ehrenamt abgedeckt sind, „fehlt“ nichts.