Psychosomatik: Die Sprache des Körpers verstehen

von
Camilla Burstein, MA
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Aktualisiert am 24.02.2025

Die psychosomatische Medizin sieht Beschwerden als Teil eines komplexen Systems aus Körper, Psyche und sozialem Umfeld. Sie betrachtet, wie seelische Belastungen körperliche Beschwerden auslösen oder verstärken können. Doch wie funktioniert dieses Zusammenspiel? Wir haben bei einer Expertin nachgefragt.

Körper, Psyche, aber auch unser soziales Umfeld beeinflussen das, was wir unter Gesundheit beziehungsweise Krankheit verstehen und definieren. Dr. Elisabeth Schartner, Fachärztin für Innere Medizin mit Spezialisierung psychosomatische Medizin, erklärt, welche Lebensumstände das Risiko für funktionelle Körperbeschwerden erhöhen und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt.

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„Man spricht von ,Funktionellen Körperbeschwerden‘, wenn keine strukturellen Veränderungen vorliegen, sondern die Funktion aus dem Takt geraten ist. Diese Erkrankungen sind sehr häufig, man geht je nach Studie von 20 bis 50 Prozent der Hausarzt/-ärztinnenbesuche aus.“

Dr. Elisabeth Schartner
Fachärztin für Innere Medizin,
Spezialisierung psychosomatische Medizin

Wie genau beeinflusst die Psyche körperliche Beschwerden?

Dr. Elisabeth Schartner Als Menschen reagieren wir äußerst komplex auf Reize, sie werden auf unterschiedlichsten Ebenen verarbeitet. So kommt es zum Beispiel bei psychischen Stressoren zu Veränderungen im Gehirn, im unwillkürlichen Nervensystem, im Hormonsystem oder im Immunsystem.

Die Auswirkungen werden (leider teils auch von Fachpersonal) oft unterschätzt. So ist etwa das Herzinfarktrisiko an einem Tag, an dem man vom Tod einer sehr nahe stehenden Person erfährt, um das 21-Fache erhöht. In Japan konnte man in den Tagen nach einem Erdbeben eine deutliche stressbedingte Zunahme an blutenden Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren feststellen.

Auch die Art der ärztlichen Kommunikation ist relevant. So haben zum Beispiel Menschen weniger Nebenwirkungen nach Impfungen, wenn im Aufklärungsgespräch der Fokus auf der guten Verträglichkeit liegt, nicht auf den unerwünschten Effekten.

Welche körperlichen Beschwerden treten besonders häufig bei psychosomatischen Erkrankungen auf?

Schartner Da, wie zuvor erwähnt, nie nur biologische Faktoren relevant sind, gibt es eigentlich keine „psychosomatischen Erkrankungen“. Wir als Menschen reagieren immer „psychosomatisch“ auf Reize. Eine psychosomatische Haltung macht also in ganz vielen Bereichen der Medizin Sinn (wenn nicht überhaupt in allen), aber besonders sinnvoll ist das in der Betreuung von chronisch Erkrankten und jenen Erkrankungen, die von vielen Menschen als „psychosomatische Erkrankungen“ bezeichnet werden: Zustände, bei denen die Betroffenen Beschwerden haben, aber in den herkömmlichen Untersuchungen keine Ursachen gefunden werden. 

Man spricht hier von „Funktionellen Körperbeschwerden“, weil eben keine strukturellen Veränderungen vorliegen, sondern die Funktion aus dem Takt geraten ist. Diese Erkrankungen sind sehr häufig, man geht je nach Studie von 20 bis 50 Prozent der Kontakte im Rahmen der hausärztlichen Versorgung aus – in Spezialambulanzen (rheumatologisch, gynäkologisch, gastroenterologisch …) sind sie noch häufiger anzutreffen. Es kann dabei zu unterschiedlichen Symptomen wie Verdauungsbeschwerden, Kreislaufbeschwerden, Schwindel, Kloßgefühl, Beklemmungsgefühlen, Gefühlsstörungen oder Schmerzzuständen kommen.

Welche Rolle spielen Stress und emotionale Belastungen bei der Entstehung von funktionellen Körperbeschwerden?

Schartner Jeder und jede von uns kennt wohl Ereignisse, in denen der Körper sehr klar auf bestimmte (oft als bedrohlich wahrgenommene) Reize reagiert – sei es, dass das Herz zu rasen beginnt, wenn man die Öffi-Jahreskarte zu Hause vergessen hat und ein Kontrolleur in der U-Bahn auftaucht oder man im Rahmen eines Vortrags so aufgeregt ist, dass der Mund ganz trocken wird („mir bleibt die Spucke weg“). 

So ist es für die meisten Menschen auch gut nachvollziehbar, dass über längere Zeit anhaltende Belastungen sich auf körperliche Funktionen negativ auswirken können. Viele Menschen merken auch, dass das ständige Beschäftigen mit Beschwerden bzw. Angst oder Sorge vor einer schlimmen Erkrankung wie in einem Teufelskreis die Wahrnehmung der Symptome in einer sehr unangenehmen Art weiter verstärken kann.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für funktionelle Körperbeschwerden?

Schartner Da funktionelle Erkrankungen derart häufig sind, ist es von ärztlicher Seite her sinnvoll, diese von Anfang an mitzubedenken, sich (wenn vom Gesundheitssystem her möglich) Zeit zu nehmen, Sorgen anzuhören, eine gezielte (und nicht ausufernde) Diagnostik zu machen und in Ruhe Dinge zu erklären. Zeit und Empathie sind Faktoren, die hier schon therapeutisch wirken können. Weiters können Patient:innen ermutigt werden, zu beobachten, in welchen Bereichen sie Einfluss auf die Beschwerden nehmen können, um wieder selbstwirksamer und aktiver zu werden. Das alles ist natürlich insofern problematisch, weil unser Gesundheitssystem Zeit recht gering honoriert und Betroffene daher oft von Untersuchung zu Untersuchung geschickt werden und das Gesundheitssystem auf diese Art den Umgang mit der Erkrankung noch negativ beeinflusst … Hier sollte natürlich ein Umdenken stattfinden.

Weitere Möglichkeiten bieten Entspannungsverfahren wie Atemübungen, MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction), autogenes Training oder Muskelrelaxation nach Jacobson. Eine gute Wirksamkeit hat auch Hypnose, vor allem beim Reizdarmsyndrom. Ebenso kann für viele Menschen Psychotherapie hilfreich sein. Außerdem gibt es spezialisierte Kliniken bzw. die Möglichkeit zur Reha. Auch unterschiedliche medikamentöse, unterstützende Optionen stehen zur Verfügung.

Gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder Lebensumstände, die das Risiko für funktionelle Körperbeschwerden erhöhen?

Schartner Vor vielen Jahren haben chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa als „typisch psychosomatisch“ gegolten und man hat versucht zu testen, ob es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale häufiger unter Erkrankten gibt. Das war natürlich stigmatisierend für Betroffene und Erkrankte hatten teils den Eindruck, als würde man ihnen unterstellen, „selbst schuld“ an der Erkrankung zu sein. Heute ist der Stand der Wissenschaft, dass es keinen Hinweis gibt, dass psychische Faktoren die Erkrankung auslösen können.

Angsterkrankungen oder Depressionen treten zwar gehäuft auf und wirken sich nicht positiv auf den Krankheitsverlauf aus (daher sollten sie auf jeden Fall in der Betreuung mitberücksichtigt werden), aber natürlich auch, weil eine chronische Erkrankung etwas mit der Psyche einer betroffenen Person macht.

Auch für funktionelle Körperbeschwerden gibt es prädisponierende Faktoren wie ungünstige Kindheitserfahrungen, belastende Lebensumstände oder andere körperliche Erkrankungen.

Generell können Lebensumstände unsere Gesundheit massiv beeinflussen – so gibt es Langzeitdaten, dass Kinder mit traumatischer Kindheit eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, als Erwachsene an diversen Erkrankungen zu leiden. Untersucht wurden unterschiedlichste Punkte wie emotionale Vernachlässigung, Missbrauch, körperliche Gewalt, Leben mit einer substanzabhängigen Person im gleichen Haushalt, Trennung der Eltern … Lagen mehr als sechs Punkte vor, so war die Lebenserwartung um erschreckende 20 Jahre vermindert.

Doch auch Belastungen im Erwachsenenalter sind relevant. So kann chronischer Stress, z. B. durch die Pflege von Angehörigen, zu vorzeitiger Alterung und niedrigerer Lebenserwartung führen.

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Camilla Burstein, MA

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