60 Prozent. So groß könnte laut WHO bis zum Jahr 2030 der Anteil der Weltbevölkerung sein, der übergewichtig oder adipös ist. Adipositas rangiert auf Platz eins der größten globalen chronischen Gesundheitsprobleme. Welche Ursachen hat hohes Gewicht und wie kann Betroffenen geholfen werden? Wir haben bei drei Experten unterschiedlicher Disziplinen nachgefragt.
Die ständige Verfügbarkeit von ungesunden Nahrungsmitteln und mangelnde Bewegung haben in den letzten Jahren die Zahl der Menschen mit krankhaftem Übergewicht bzw. Adipositas explodieren lassen. Übergewicht und Adipositas gehören zu den wichtigsten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus Typ 2. Um des Problems Herr zu werden, ist jedenfalls eine Änderung des Lebensstils notwendig – in schwerwiegenden Fällen auch eventuell mit chirurgischen sowie psychologischen Maßnahmen.
DA-Experten-Interview mit Dr. Michael Kisser, Allgemein- und Viszeralchirurg in Wien
Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die nicht als Willensschwäche abgetan werden sollte. Sie beeinträchtigt nicht nur das Wohlbefinden, sondern birgt auch ein enormes Gesundheitsrisiko. Welche Auswege aus der Krankheit führen, schildert uns der Chirurg Dr. Michael Kisser.
Deine Apotheke: Ein adipöser Mensch kommt in Ihre Praxis. Welche operativen und nicht-operativen Maßnahmen können ergriffen werden?
Dr. Michael Kisser: Die Gründe für Adipositas unterliegen meist einem Lebensstilproblem. Es wird mehr aufgenommen als ,,ausgegeben“. Die
wichtigste Frage, die ich meinen Patienten stelle, ist demnach: „Können Sie Ihren Lebensstil verändern?“. Wenn dies der Fall, ist, können die Patienten durch ihre Willenskraft, unsere Unterstützung und Beratung ihren Lebensstil verbessern und ändern. Unterstützend kann man hier auch noch eine Akupunkturbehandlung durchführen. Eine weitere Möglichkeit sind gewichtsreduzierende Spritzen, die den Gewichtsreduktionsprozess unterstützen. Während einer Magenspiegelung kann ein Magenballon eingesetzt werden, der durch sein Volumen die aufnehmbaren Portionsgrößen stark reduziert. Bei extremem Übergewicht oder wenn die Patienten keine Lebensstilveränderung durchführen können (z.B. Bewegungseinschränkung), kommt eine Magenverkleinerung oder eine Magenbypass-Operation in Frage.
Was passiert im Körper, wenn der Betroffene ein extrem hohes Gewicht hat?
Kisser: Alle Hormone im Körper müssen in diesem Fall auf wesentlich mehr Zellen aufgeteilt werden, dadurch muss vor allem die Bauchspeicheldrüse deutlich mehr Leistung erbringen. Zusätzlich entsteht ein Gewöhnungseffekt an den Zellen auf Insulin, dies ist bereits eine Vorstufe von Zuckerkrankheit. Es verändert sich auch die Ausschüttung von Hormonen aus dem Darm, welche wiederum starke Auswirkungen auf die Leber, die Skelettmuskulatur und das Gehirn zeigen, dadurch kann der Patient schon nicht mehr aus seiner ,,Fettsucht“ heraus.
Welche vorherrschenden Glaubenssätze über Adipositas würden Sie gerne zurechtrücken?
Kisser: Normalgewichtige Menschen haben oft die Auffassung, dass Übergewicht selbstverschuldet ist und es den Betroffenen an Willenskraft fehlt. Die Wahrheit ist jedoch, dass Sie viel geleistet haben, aber leider wieder in alte Ernährungsmuster zurückfallen.
DA-Experten-Interview mit Mag. Doris Kisser, Psychotherapeutin, klinische und Gesundheitspsychologin in Wien
Psychologische Betreuungsmaßnahmen spielen bei starkem Übergewicht, aber auch Essstörungen wie Binge Eating eine wichtige Rolle. Stigmatisierung und Voreingenommenheit gegenüber stark übergewichtigen Personen helfen niemandem. Über die psychologischen Faktoren der Krankheit haben wir mit Mag. Doris Kisser gesprochen.
Deine Apotheke: Welche psychischen Ursachen kann starkes Übergewicht haben?
Mag. Doris Kisser Ein deutlich über der Norm liegendes Körpergewicht kann sich negativ auf den Selbstwert, das Selbstvertrauen und die eigene Initiative auswirken. Betroffene ziehen sich oft aus Angst vor negativen Rückmeldungen aus dem sozialen Leben zurück, verlieren ihre Freude an modischen Aspekten und sportlichen Aktivitäten – was sich wiederum negativ auf den weiteren Gewichtsverlauf auswirkt. Positive soziale Rückmeldungen bleiben durch den vermehrten Rückzug aus und nicht selten führt dieser Teufelskreis in eine Depression.
Wie kann man seine Einstellung zum Essen positiv verändern?
Kisser: Essen soll wieder zu einem Genuss werden. Die Nahrungsaufnahme wird oft als Ersatzbefriedigung eingesetzt, z.B. als Trost bei erlebten Kränkungen, Zurückweisungen, seelischem Kummer, Frust und Langeweile. Über das Erkennen und Zuordnen der zugrunde liegenden Faktoren lernen die Betroffenen (mit Unterstützung), sich auf konstruktive Weise Gutes zu tun und die Nahrungsaufnahme von schädlichen Faktoren zu entkoppeln.
Wie lernen Betroffene, sich selbst zu akzeptieren bzw. lieben?
Kisser: Am Anfang steht immer die Akzeptanz der Situation, wie sie gerade ist. Dann wird nach und nach Verständnis und Mitgefühl für die eigene Lage aufgebaut – denn unter Druck und Schuldgefühlen ist keine gute Veränderung möglich. Die Betroffenen lernen einen achtsamen Umgang mit sich selbst, speziell auch in der Essenssituation (Entschleunigung und es „sich schön machen“). Sie erkennen, welche Faktoren sie in das schadhafte Essverhalten geführt haben, und erarbeiten neue Strategien, wie sie sich in schwierigen Situationen helfen können. Positive Erfolgserlebnisse bestärken und helfen auch über Rückschläge hinweg. Das Selbstwertgefühl steigt kontinuierlich und um es in den Worten einer Betroffenen zu sagen: ,, Neben dem Gewicht habe ich auch eine Menge seelischen Ballast abgeladen, sodass ich mich nach langer Zeit wieder frei und lebendig fühlen darf!“
DA-Experten-Interview mit Karin Oberreiter, BSc., Diätologin in Wien
Wie können Betroffene nun ihren Lebensstil und ihr Ernährungsverhalten ändern. Reicht es, Junk Food wegzulassen? Wir fragen eine Diätologin.
Deine Apotheke: Wie reduziert man aus diätologischer Sicht effizient Gewicht, welche Regeln gilt es zu beachten?
Karin Oberreiter, BSc.: Ganz wichtig bei einer Gewichtsreduktion ist es, sich eine Regelmäßigkeit anzugewöhnen. Jeder Mensch ist individuell und soll für sich herausfinden, wie viele Mahlzeiten pro Tag in den Alltag integrierbar sind. Ein weiterer ganz wichtiger Punkt ist es, zwischen diesen Mahlzeiten keine Energie in Form von Kohlenhydraten zu sich zu nehmen, sprich Süßigkeiten, zuckerhaltige Getränke oder auch andere kohlenhydratreiche Snacks, wie Leberkässemmerln und Kuchen zum Kaffee. Fett aus den eigenen Reserven dient als Energiequelle, wenn keine Erhöhung des Blutzuckers durch Nahrungszufuhr vorliegt. Der dritte wichtige Punkt ist die Zusammensetzung der Mahlzeiten. Jede Hauptmahlzeit soll Eiweiß, Kohlenhydrate und eine Ballaststoffquelle in Form von Gemüse oder auch Obst (max. 2 Handvoll pro Tag) enthalten.
Bedeutet Gewichtsreduktion automatisch Verzicht auf Genuss und starke Einschränkung?
Oberreiter: Klar ist: Wenn man abnehmen möchte, muss man wahrscheinlich etwas an seinem Lebensstil verändern. Somit wird es für jeden auch Verzicht bedeuten. Wenn man aber lernt, zum Beispiel eine kleine Menge Süßigkeiten bewusst zu genießen, und den Geschmack einmal richtig wahrnimmt, dann kann Einschränkung auch Genuss bedeuten.
Von welchen Diäten bzw. Maßnahmen ist strikt abzuraten?
Oberreiter: Unbedingt abzuraten ist von Diäten, die die Kilokalorienzufuhr drastisch reduzieren, bzw. Null-Diäten. Dabei verliert man zwar in kurzer Zeit einige Kilos, diese sind aber zu Beginn hauptsächlich gespeicherte Zuckerreserven (Glykogenspeicher) aus Leber und Muskulatur und sogar die Muskelmasse selbst. Wenn man dann wieder normal zu essen beginnt, kommt es zum gefürchteten Jojo-Effekt. Generell würde ich von einseitigen Diäten, wie zum Beispiel Krautsuppendiät oder Kartoffeldiät, abraten, da es hierbei auch zu einer Mangelversorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen kommen kann sowie auch zu einem Mangel an Makronährstoffen, den Proteinen, Kohlenhydraten und Fetten. Denn ja, auch Fette braucht es für eine ausgewogene Ernährung.
Wir bedanken uns bei allen unseren Gesprächspartnern.