Männer und Frauen sind nicht gleich krank. Krankheiten manifestieren sich unterschiedlich, die Ansprache auf Therapien ist nicht gleich und es gibt Unterschiede im Gesundheits- und Risikoverhalten.
Frauen wurden von der Medizin lange Zeit vernachlässigt. Die Forschung, Diagnostik und Therapie orientierte sich einzig an Männern und ein Umdenken findet erst seit einigen Jahren statt. So werden zum Beispiel neue Medikamente häufig nur an Männern getestet.
Frauen reagieren aber anders auf manche Medikamente, brauchen zum Beispiel eine andere Dosis oder bauen Arzneimittel anders ab, können sogar andere Wirkungen zeigen. Auch äußern sich viele Erkrankungen auf andere Weise bei Frauen. In vielen Fällen müssten Frauen anders behandelt werden als Männer.
Die Gendermedizin widmet sich genau diesen Unterschieden bei Männern und Frauen. Aufgrund der Vernachlässigung der Frauengesundheit in der Vergangenheit liegt der Hauptfokus derzeit auf dem weiblichen Geschlecht. Die Gendermedizin widmet sich aber grundsätzlich beiden Geschlechtern.
Die Rolle der Gesellschaft, Biologie und Evolution
- Gesellschaftlich betrachtet: Männer galten lange als das starke Geschlecht – leben im Durchschnitt jedoch sechs Jahre kürzer als Frauen. Dabei sind nicht nur biologische Faktoren, sondern auch gesellschaftliche Rollen ein Thema. Männer sind öfter in Verkehrsunfälle verwickelt, weil Schnellfahren als männlich gilt. Sie trinken mehr Alkohol und Rauchen öfter und mehr als Frauen.
Frauen sind tendenziell gesundheitsbewusster. Sie interessieren sich mehr für Vorsorgeuntersuchungen und nehmen diese auch eher in Anspruch. Außerdem sind Frauen oft die Gesundheits-Coaches der Familie. Gleichzeitig werden ihre Gesundheitsprobleme weniger ernstgenommen. - Die Rolle der Biologie: Menschen mit den Geschlechtschromosomen XX sind weiblich, jene mit XY sind männlich. In den ersten Wochen sind weibliche und männliche Embryonen – abgesehen von ihren Geschlechtschromosomen – komplett gleich. Ungefähr in der siebten Entwicklungswoche, wenn das so genannte SRY-Gen angeschaltet wird, bilden sich Hoden, in denen das Geschlechtshormon Testosteron gebildet wird. Wird das SRY-Gen nicht aktiv, bildet der Organismus weibliche Geschlechtsmerkmale und das Hormon Östradiol.
Alleine schon der Chromosomensatz XX oder XY kann für bestimmte Krankheiten anfälliger machen oder schützen. Klassisches Beispiel ist die Hämophilie (Bluterkrankheit), eine Störung der Blutungsgerinnung, die an das X-Chromosom gekoppelt ist. Ist die Mutter Trägerin einer defekten Erbanlage auf dem X-Chromosom, wird diese zwangsläufig an die Nachkommen weitergegeben. Handelt es sich dabei um einen Buben (XY-Chromosome), erkrankt er an Hämophilie. Wird das defekte Gen an ein Mädchen weitergegeben, gleicht das zweite (gesunde) X-Chromosom den Fehler aus. - Aus evolutionärer Sicht: Aber auch die Evolution und unsere Vorfahren begründen gewisse Geschlechterunterschiede. Bereits in der Steinzeit kamen Männern und Frauen unterschiedliche Rollen zu. Der Mann beschützte die Familie und jagte Essen. Die Frau zog die Kinder zum Beispiel in Höhlen auf und sammelte rund um den Wohnplatz Nahrung. Für diese Aufgaben war die Entwicklung unterschiedlicher körperlicher Merkmale notwendig.
Männer sind durchschnittlich acht bis zehn Prozent größer als Frauen und haben rund 20 bis 30 Prozent mehr Muskelmasse. Der Umstand, dass Steinzeitfrauen für das Aufziehen der Kinder verantwortlich und sie einem stärkeren Risiko ausgesetzt waren, sich mit den Infektionskrankheiten ihrer Kinder anzustecken, führte dazu, dass Frauen ein starkes Immunsystem ausgebildet haben. Die andere Seite der Medaille ist, dass Frauen aber auch anfälliger für Autoimmunerkrankungen sind.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen äußern sich unterschiedlich
Im Laufe eines durchschnittlichen langen Lebens schlägt das Herz drei Milliarden Mal und transportiert dabei rund 120 Millionen Liter Blut. Es ist vollständig abhängig von der Blutversorgung, die über bestimmte Blutgefäße gewährleistet wird. Jegliche Verengung dieser Gefäße gefährdet den Herzmuskel und wird als „Koronare Herzkrankheit“ (KHK) bezeichnet.
Traditionell gilt KHK als Männerkrankheit. Bei Männern treten Herzprobleme zehn bis 15 Jahre früher in Erscheinung als bei Frauen. Männer sind herzinfarktgefährdeter bis Frauen die Menopause erreichen. Wenn die Eierstöcke weniger Östrogen produzieren und sich weitere Risikofaktoren (wie Übergewicht, Bluthochdruck etc.) dazugesellen, steigen auch die KHK-Zahlen bei Frauen rasant an.
Zu den Hauptursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zählt Sauerstoffmangel im Gewebe, aufgrund einer Verengung der Koronararterien. Ist die ausreichende Durchblutung verhindert, spürt der Patient ein Druckgefühl in der Herzgegend. An den Ablagerungen in den Arterien können sich Blutgerinnsel festsetzen, die irgendwann das Gefäß verstopfen und einen Herzinfarkt auslösen können.
Bei Männern beruhen Herzinfarkte eher auf einem Riss in den Ablagerungen an der Arterienwand („Explosion“), bei Frauen beginnen diese Ablagerungen eher zu bröckeln („Erosion“). Bei Frauen entstehen aufgrund der Erosion kleine Partikel, die den kleinen Blutgefäßen sehr gefährlich werden können – zum Beispiel im Gehirn. Das könnte ein Grund dafür sein, dass Frauen öfter einen Schlaganfall erleiden und Männer öfter einen Herzinfarkt.
Das klassische Erscheinungsbild eines Herzinfarkts ist wohl bekannt: plötzlicher, intensiver Schmerz in der Brust, der in die linke Schulter und den linken Arm ausstrahlen kann.
Bei 20 Prozent der Frauen sieht ein Herzinfarkt allerdings völlig anders aus: Die Symptome treten nicht plötzlich auf, sondern können sich über Stunden oder sogar Tage hinweg entwickeln. Dazu können Kurzatmigkeit kommen sowie ein atypischer Schmerz im Nacken oder Kiefer statt der Schulter. Außerdem klagen viele Frauen über allgemeine Symptome wie Übelkeit.
Viele Frauen kommen daher sehr viel später als Männer in die Notaufnahme – das Risiko, fehldiagnostiziert zu werden, ist doppelt bis vierfach so hoch wie bei einem Mann.
Es gibt Unterschiede im Schmerzempfinden
Akuter Schmerz ist ein wichtiger Schutzmechanismus, der uns vor einer Gefahr warnen soll. Schmerzen im Brustkorb können auf einen Herzinfarkt hinweisen, ein plötzlich schmerzendes Auge kann auf einen Fremdkörper hindeuten. Diese Warnsignale sind für unser Überleben äußerst wichtig.
Das Erleben von Schmerz ist in hohem Maße subjektiv und nicht immer leicht in Worte zu fassen. Die biologischen Aspekte von Schmerz hängen unter anderem mit Alter, Gesundheitszustand, Hormonlage und auch dem Geschlecht zusammen.
Den Einfluss der Hormone auf Schmerz kann man beispielsweise in der Schwangerschaft beobachten, hier gehen Schweregrad und Häufigkeit von Migräne-Kopfschmerzen häufig zurück. In der Schwangerschaft durchläuft der Körper viele Veränderungen. Kurz vor der Geburt ist der Progesteronspiegel mehr als 100-mal höher als vor der Menstruation – möglicherweise eine Vorbereitung auf den Geburtsschmerz.
Evolutionsbedingt haben Männer eine höhere Schmerztoleranz. Ein Mann, der auf die Jagd ging, wäre entscheidend im Nachteil gewesen, wenn ihn jede kleine Verletzung behindert hätte. Für diese höhere Schmerztoleranz sorgt das Hormon Testosteron – dessen Spiegel zwischen 30 und 40 anfängt, zurückzugehen. Mit zunehmendem Alter geht also auch die Schmerztoleranz zurück.
Dies ist der Grund, warum ältere Männer vermehrt über Schmerzen klagen – weil sie tatsächlich mehr Schmerzen haben als in jüngeren Jahren. Bei Frauen schwankt das Schmerzempfinden vor allem während ihres Zyklus. In der ersten Zyklushälfte sind sie empfindlicher als in der zweiten.
Coronavirus und Testosteron: Männer haben ein höheres Sterberisiko
Weltweit versuchen Wissenschaftler, das SARS-CoV-2-Virus besser zu verstehen. Mittlerweile konnten zahlreiche Faktoren identifiziert werden, die einen Einfluss auf den Erkrankungsverlauf haben.
Aktuelle medizinische Studien legen nahe, dass bei Männern das Hormon Testosteron eine wesentliche Rolle spielt. Es konnte gezeigt werden, dass das Risiko für Männer, an COVID-19 zu sterben, um 59 Prozent erhöht war.
Außerdem zeigen männliche COVID-19-Patienten mit einem Testosteronmangel oft einen schwereren Krankheitsverlauf. Hinzu kommt, dass zu niedrige Testosteronspiegel im Blut auch oft in Verbindung mit anderen Erkrankungen wie Übergewicht (Adipositas), Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ 2) oder Arterienverkalkung (Atherosklerose) auftreten.
Aber weder mit einem schweren COVID-19-Verlauf noch mit Übergewicht würde man das „Männlichkeitshormon“ sofort in Verbindung bringen. Denn die typischen und eher bekannten Symptome eines Testosteronmangels sind Potenzstörungen und sexuelle Unlust. Dennoch bestehen hier Zusammenhänge, die zum Teil erst kürzlich erkannt wurden.
Denn die genannten Erkrankungen können einen Testosteronmangel verursachen beziehungsweise verschlechtern – und ein Mangel an Testosteron wiederum kann einen negativen Einfluss auf das Immunsystem des Körpers haben, das zur Infektabwehr zwingend benötigt wird.
Osteoporose betrifft auch Männer
Der Knochen ist ein aktives Gewebe, welches zeitlebens kontinuierlichen Umbauprozessen unterworfen ist. Nehmen die Abbauprozesse überhand, kann es zu krankhaften Veränderungen der Knochenstruktur kommen. Charakteristisch bei der Osteoporose sind die verminderte Knochenmasse sowie eine mikroarchitektonische Störung des Knochengewebes. Weniger der Verlust der Knochenmasse selbst ist das Problem, als die zunehmende Gefahr durch Knochenbrüche, insbesondere am Oberschenkelhals.
Osteoporose gilt als Frauenkrankheit. Von einer Osteoporose sind laut WHO deutlich mehr Frauen als Männer betroffen: 20 Prozent der Frauen, verglichen mit vier Prozent der Männer über 50. Vor allem nach der Menopause steigen die Fallzahlen bei Frauen durch den Östrogenabfall an.
Osteoporosebedingte Knochenbrüche sind bei Frauen zwar häufiger, Männer erkranken oder sterben jedoch häufiger nach einem Knochenbruch. Die meisten medizinischen Gesellschaften weltweit empfehlen Osteoporosescreenings bei Frauen ab 65 und bei Männern ab 70.
Arzneimittel wirken bei Männern und Frauen unterschiedlich
Wie schon eingangs erwähnt, gilt das männliche Geschlecht als die Norm in der Medizinforschung. Ein großes Thema der Gendermedizin sind daher die geschlechtsabhängigen Unterschiede bei der Behandlung von Erkrankungen.
Medikamente können bei Männern und Frauen unterschiedlich wirken. Dafür gibt es eine Vielzahl an möglichen Gründen. Frauen haben einen höheren Körperfettanteil, dafür einen geringeren Körperwasseranteil, ihre Organe sind stärker durchblutet, die Nierenleistung ist um zehn Prozent geringer als die der Männer. Bestimmte Enzyme werden bei Mann und Frau unterschiedlich schnell in der Leber abgebaut.
Männer und Frauen unterscheiden sich auch in puncto Vitamin- und Spurenelementbedarf
Eine Frau, die eine Schwangerschaft plant, sollte rechtzeitig an die Einnahme von Folsäure, auch Vitamin B9 genannt, denken. Es ist besonders für das Nervensystem eines Fötus wichtig – und das zu einem Zeitpunkt, an dem der Frau die Schwangerschaft zumeist noch gar nicht bewusst ist.
Auch Eisen ist so ein Thema: Frauen haben aufgrund des Blutverlusts während der Menstruation einen höheren Bedarf. Männer benötigen mehr Zink, da sie mehr schwitzen und damit das Spurenelement schneller ausscheiden. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit gibt als Referenzwert für den Magnesiumbedarf von Frauen ab 25 Jahren 300 mg pro Tag und von Männern 350 mg pro Tag an.